Was Deutschland so erlebt und erträgt (?)
Selbstbedienung im großen Stil
Große Koalition beschließt umfaßende Steuererhöhung und Kürzungen
Von Paul Müller
Wie zu Angemeldet als Dokumentarist
(Administrator)erwarten war, hat die Große Koalition im Bundestag am Freitag Steuererhöhungen und Kürzungen von ungekantem Ausmaß durchgesetzt. Demnach wird etwa die Mehrwertsteuer auf 19 Prozent steigen. Zugleich werden Bundeszuschüsse für Verkehr, sowie die Renten- und Krankenkassen gekürzt. Die Opposition griff die Regierung in der Debatte scharf an.
Allein durch die Erhöhrung der Mehrwertsteuer werden ALG II-Empfänger im Jahr um 166 Euro mehr belastet. Nach Angaben von RF-News wird ein Rentnerehepaar mit 1500 Euro brutto um 640 Euro, eine Familie mit zwei Kindern und 4000 Euro brutto um 800 Euro stärker zur Kasse gebeten. Zusammen mit der allgemeinen Teuerungsrate dürfte es eine Anstieg der Lebenshaltungskosten um vier bis fünf Prozent geben.
Im Gegenzug votierte die Koalition für umfangreiche Kürzungen. Der Sparerfreibetrag soll von derzeit 1.370 Euro für Ledige und 2.740 Euro für Ehepaare auf 750 Euro für Ledige und 1.500 Euro für Ehepaare reduziert werden. Bei Berufspendlern wird das "Werktorprinzip" eingeführt, was eine Abschaffung der Entfernungspauschale bei Fahrten von unter 30 Kilometer bedeutet. Das Kindergeld wird ab dem Jahrgang 1983 nur noch bis zum 25., statt, wie bislang, bis zum 27. Lebensjahr ausgezahlt.
Die Bergmannsprämie, die einen Zuschlag von fünf Euro für jede volle Untertageschicht vorsieht, wird im kommenden Jahr halbiert und ab 2008 ersatzlos gestrichen. Der, wie das Bundesfinanzministerium erklärte, "seit langem arbeitsmarktpolitisch überholte" Lohnbestandteil wird faktisch zu einer Bruttolohnsenkung von insgesamt 25 Millionen Euro führen.
Die Kürzungsrunde ist damit jedoch noch nicht beendet. So soll das Weihnachtsgeld der Bundesbeamten verringert, vor allem jedoch der Zuschuß zur Renten- und Krankenversicherung, sowie bei den Regionalisierungsmittel, was vor allem den Nah- und Regionalverkehr betrifft, gekürzt werden.Viele Bahnunternehmen befürchten deutliche Auswirkungen auf den öffentlichen Verkehr, etwa die nordrhein-westfälische Regiobahn fürchtet, 20 Prozent ihrer Verbindungen streichen zu müssen. Im Vorfeld der Bundestagsentscheidung waren insgesamt 400.000 Unterschriften und 80.000 Protestmails allein aus NRW an das Bundesverkehrsministerium übergeben worden. Der Sozialverband VdK befürchtet insgesamt einen Anstieg des Krankenkassenbeitrags um 1,3 Prozent.
Scharfe Kritik an der Steuererhöhung kam von der Opposition. Als "schamlosen Griff in die Tasche der Bürgerinnen und Bürger" bezeichnete der Linkspartei-Abgeordnete Dietmar Bartsch den Beschluß. "Die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent führt zu deutlichen finanziellen Einbußen und zu sinkender Kaufkraft. Sozialschwache, Gering- und Normalverdiener und Rentner werden künftig erheblich weniger Geld in der Tasche haben. Zu verdanken haben sie dies den Abgeordneten von Union und SPD, die selbst aufgrund ihrer eigenen Einkommens- und Vermögenssituation von den Änderungen nur eher geringfügig betroffen sind." Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolff kündigte an, das Land werde der Vorlage im Bundesrat nicht zustimmen.
Die Grünen-Haushaltsexpertin Anja Hajduk erwartet durch die Kürzungen ein Steigen der Krankenkassenbeiträge um ein Prozent, FDP-Chef Guido Westerwelle warf der Regierung Wahlbetrug vor. Auch Vertreter führender Unternehmerverbände lehnten die Steeuererhöhung mit Verweis auf die Auswirkungen für die Binnenkonjunktur ab. Der Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, forderte erwartungsgemäß, die Mehreinnahmen für die Senkung der Lohnnebenkosten zu verwenden. Womit faktisch die Profite der Unternehmen subventioniert würden, was Walters Forderung, Subventionen zu kürzen, jedoch nur scheinbar widerspricht - dabei ging es um andere.
Die Bundesregierung erhofft sich im kommenden Jahr durch die Maßnahmen eine Entlastung von 18 Milliarden Euro, in den Folgejahren um 22 Milliarden. Welche Auswirkungen die erhöhte Mehrwertsteuer auf die Einnahmen haben wird, ist bislang noch umstritten. Bürgerliche Experten gehen vielfach davon aus, daß die angezogene Konjunktur vor allem eine Reaktion auf die bereits bekannten Steuerpläne für das kommende Jahr ist und vor allem geplante Anschaffungen noch vor der Verteuerung getätigt werden.
Victor Hugo, französischer Schriftsteller (* 1802 - † 1885)